Alberto Venzago ist Reportage-Fotograf, Foto-Künstler, Filmemacher; weitgereist, vielbesehen, hochdekoriert. Always on the run, immer auf der Suche nach dem nächsten Ding. Und meist findet er es mit zielsicherer Genauigkeit. Der Preisträger des Robert Capa Awards hat mit Geduld, Ausdauer und Einfühlungsvermögen Bilder von dort mitgebracht, wo man eigentlich nicht hinkommt. Oder hin möchte. Bookfactory CEO Christian Burkhardt hat sich mit Alberto Venzago über dessen Leben, seine fotografische Weltsicht und seine Projekte unterhalten. Im Mai 2021 wird seine grosse Retrospektive «Picture taking – Picture making» im Museum für Gestaltung, Zürich, eröffnet. Exklusiv für unsere Leser wird Alberto Venzago eine Führung durch die Ausstellung geben. Mehr Informationen zu einem späteren Zeitpunkt.
Alberto, lass uns gleich direkt mit einem «entscheidenden Moment» einsteigen. Du warst Fotograf bei der legendären Foto-Agentur Magnum. Die wurde von Henri Cartier-Bresson mitgegründet, und Cartier-Bresson hat wiederum die Bedeutung des «decisive moments» geprägt, also des entscheidenden Moments, den es fotografisch einzufangen gilt. Wie hältst Du die entscheidenden Momente fest?
Henri Cartier-Bresson war wie mein Lehrer – ich habe 4 Jahre lang bei Magnum seine Kontaktabzüge angeschaut. So konnte ich genau sehen, wie er dachte, was ihn angetrieben hat. Hat er das Objekt von allen Seiten betrachtet oder war es einfach ein «Lucky Punch»? So lernte ich von ihm, wie er vorgeht. Dieser entscheidende Moment spielt sich oft in einer Tausendstelsekunde ab, ähnlich wie im Fussball. Wenn der Spielzug aufgeht, wenn alles aufs Mal zusammenkommt. Im fotografischen Sinn sind das dann Licht und Bewegung, Mimik, Habitus…
…und der Torschuss…?
…der macht Klick. Den Jubel höre ich nur in mir, dafür aber umso lauter.
Klingt ziemlich einfach.

Beirut
Wäre es auch, wenn der richtige Moment meistens nicht zu früh oder zu spät kommen würde. Dann wartest du vielleicht auf die zweite Chance oder – das sagte Cartier-Bresson nie – du brauchst Glück. Ich sage: wer redlich schafft, der hat das Glück verdient. Erfahrung und Intuition helfen sicher, um das Glück zu erzwingen. Und du musst dein Gerät kennen. Du musst im Dunkeln manipulieren können, jederzeit. Film raus, zurückspulen, vorspulen, geht die Schärfe nach links oder nach rechts und so weiter. Bei 50 mm bin ich 1.60 Meter entfernt und dann habe ich im Kleinbildformat genau den richtigen Ausschnitt. Das ist eine Fleisch-und-Blut-Sache. So wie der Stürmer beim Schuss nicht nachdenkt. Denn sonst geht’s meistens daneben.
Filme im Dunkeln einlegen können klingt nach alter Zeit. Wie steht’s mit Dir – analog oder digital?
Ist mir völlig gleich. Ich kann auch mit einer Schuhschachtel fotografieren. Entweder siehst du das Bild oder nicht.
Gibt es Kameras, mit denen Du besonders gerne arbeitest?
Ich arbeite gerne mit Leica und den alten Objektiven, das hat noch einen analogen Touch. Ob scharf oder nicht, ist nicht so entscheidend. Ich arbeite auch mit Hasselblad, auch digital. Ich liebe es auch mit einem Polaroid-Rückteil zu arbeiten, ich finde das sehr spannend.
Die Kameras der Gegenwart sind nicht mehr nur von Leica oder Hasselblad, sondern von Apple, Samsung und Co. Was hältst Du von Smartphones als Kameras?
Ich fotografiere nicht mit dem Smartphone – ich habe einfach gerne eine Kamera zwischen mir und dem Objekt. Und ich habe es auch gerne, wenn die Kamera etwas grösser und schwerer ist. Meine Kinder fotografieren viel mit Smartphone, aber die Älteste hat jetzt auch mit der Analog-Fotografie angefangen. Das macht mich natürlich glücklich. Bei einer Hasselblad, z.B., hast du 12 Bilder, vielleicht x5, dann hast du 60 Bilder – da musst du dir schon überlegen, wo du abdrücken kannst und willst. Diese Ökonomisierung der Anzahl Bilder steigert die Wertigkeit des einzelnen Bildes.
«Ihr müsst eintauchen, bevor ihr abknipst»
Lass uns einen Sprung machen, raus in die Welt und zu deinen Fotos. Deine vielen Projekte quer durch alle Genres, seit einigen Jahren auch im Film, in einem Atemzug aufzuzählen, ist schwer möglich. Wie wählst du deine Projekte aus?
Die Grundvoraussetzung ist ein Thema, das dich fasziniert und erfüllt, und von du überzeugt bist, dass es wichtig ist. Dementsprechend ist die erste Frage: will ich das wirklich, mein Leben dem unterordnen. Weil sich reinzuknien bedeutet, dem Projekt absolute Priorität einzuräumen. Mit allen Ups and Downs.

Yakuza
…und das Sozialleben?
Man muss konsequent sein. Familie, Liebe… gibt es dann nicht.
Was kommt danach, wie gehst du das Projekt an?
Erste Voraussetzung ist eine grosse Recherche. Dann weisst du, ob es wirklich das ist, was du dir vorgestellt hast. Je mehr du über ein Thema erfährst, desto mehr lernst du, ob es wirklich das ist, was du willst. Denn man betritt Neuland, wenn man seinen Kulturraum verlässt. Man muss sich mit anderen Sprachen, anderen soziokulturellen Parametern beschäftigen. Das steckt alles in dem rechteckigen Bild drinnen, das man sich später ansieht. Man fotografiert also schon lange, bevor es überhaupt Klick macht. Als Fotograf und Künstler möchte man natürlich auch etwas machen, das andere so vielleicht noch nicht gemacht haben. Das bedeutet für mich auch, vor Ort zu sein. Den Ort mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Deine Reportagen, z.B. über die Yakuza in Japan, Voodoo in Benin, Kinderprostitution auf den Philippinen, fokussieren sensible Themen. Wie hast Du den Zugang zu den Sujets gefunden?
Es gehört eine riesige Portion Respekt dazu. Bei den grossen Geschichten habe ich am Anfang gar nicht fotografiert. Bei Yakuza habe ich die ersten sechs Monate gar keine Kamera dabei gehabt. Die Leute wollen zu Recht wissen wer du bist, berechtigterweise. Denn, es gibt für sie eigentlich keine Notwendigkeit, sich fotografieren zu lassen. Sie bekommen kein Geld dafür. Das einzige was sie erhalten, ist mein Interesse an ihrer Geschichte. Und deshalb geht es immer um die persönliche Beziehung. Die man sensibel und respektvoll aufbaut. Das heisst, du musst bereit sein, viel von dir zu geben und zu zeigen. Du bist ein Mensch und hast ein Umfeld, das ihnen vielleicht auch ähnlich ist. Sprich Familie, Existenzängste und so weiter. Die Basis ist das gegenseitige Vertrauen. Man spielt mit offenen Karten.

Yakuza
Das bedeutet, du steckst zu 200% in dem Projekt.
Ja. Ich muss aber auch wissen, bin ich sicher dort? Bei meinem Voodoo-Projekt waren das wirklich wichtige, grundsätzliche Fragen: will ich wirklich in diesen Raum ohne Licht und Boden? Geht das? Ich wurde verhext, ich habe 2x Malaria gehabt, ich war am Ende. Eine solche Erfahrung ist also auch eine körperliche Herausforderung – es ist halt nicht gerade hinter dem Bahnhof…
Das Thema Recherche ist das eine, aber wie geht man generell auf Menschen zu, deren Sprache man nicht spricht, die kein klassisch bürgerliches Leben führen wollen bzw. können und die man fotografieren möchte?
Sensibilität ist der Schlüssel. Als ich auf den Philippinen war, um Kinderprostitution zu fotografieren, hatte ich immer eine weibliche Assistentin dabei. Denn in den Augen vieler Menschen dort sehe ich primär aus wie ein Freier – ein weisser Europäer mittleren Alters. Und der will nur Fotos machen? Meine Assistentin und ich haben gewirkt wie ein Paar. Das hat geholfen, Barrieren abzubauen, und Vertrauen zu gewinnen. Aber es gilt auch: Wenn es nicht klappt, wenn sich jemand nicht auf dich einlassen oder gar fotografiert werden möchte, dann ist das so. Respekt und Einfühlungsvermögen bedeutet, die Wünsche deines Gegenübers zu achten. In der Kultur der Yakuza etwa sind Tätowierungen elementar. Um die zu fotografieren, also ihre nackte Haut, musste ich mich auch nackt zeigen, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Im übertragenden Sinn wollen dir die Leute in deine Seele schauen, um dir vertrauen zu können.

Philippinen
Wie siehst du so langsame Prozesse des Beziehungsaufbaus in der heutigen schnelllebigen Instagram-Foto-Welt?
Zum Glück gab es das damals nicht, man hatte also mangels Möglichkeit gar nicht die Versuchung, auf Dauerfeuer zu fotografieren und alles im selben Moment zu veröffentlichen. Wir sind Geschichtenerzähler, und es braucht Zeit, um diese erfahren und erzählen zu können.
…irgendein Ratschlag an die jungen Instagram-Fotografen?
Ratschläge möchte ich keine erteilen. Wir sind alle Kinder unserer jeweiligen Zeit. Vielleicht nur eines: Nehmt euch Zeit. Ihr müsst eintauchen, bevor ihr abknipst. Aber insgesamt gilt für mich: geh raus und erzähl deine Geschichte! Es muss dir einen Mehrwert bringen, es muss dich glücklich machen, es muss dir schlaflose Nächte bereiten – deine ganze Energie geht dort rein. Das Wort unmöglich gibt es nicht.

Voodoo
Du bist nicht nur solo unterwegs, als Fotograf und Filmemacher, sondern auch als Teil des Duos ONE, das Du mit Deiner Lebenspartnerin Julia Fokina bildest. Euer kommendes Monumental-Werk ONE – Seduced by Darkness wird von Bubu in Überdimension produziert, 1 x 1.6m und in einer sehr exklusiven Kleinauflage aufgelegt – jedes Buch wird ein 50kg schweres Unikat. Wie arbeitet ihr zusammen, wie ist das Buch entstanden?
Julia ist meine Lebenspartnerin, meine Muse. Und meine Partnerin in der Kunst. Die Arbeit als Duo ist genauso wie das Buch etwas völlig Neues für mich. Ich bin immer alleine herumgereist und plötzlich triffst du diese Frau. Sie ist nicht nur die, die vor der Kamera ist, sondern bringt selbst sehr viele Ideen – wir sind ein Team. Ich habe ja schon viel Verrücktes gemacht, aber das ist jetzt nochmals eine andere Liga, etwas ganz Anderes.
Du lernst viel dabei.
Ja! Mein gut ausgebildetes Ego hat am Anfang einen Dämpfer erhalten, weil ich plötzlich teilen musste, zuhören musste – es ist eine durch und durch gemeinsame Geschichte. Teilweise finde ich, etwas geht gar nicht, weil ich es von der technischen Seite betrachte. Julia hat aber einen ganz anderen Ansatz. Das fordert mich heraus, ich muss vielleicht einmal mehr nachdenken und dann merken wir: es geht doch. Das ist Teamwork – das ist neu für mich, und eine sehr schöne Sache. Die Zusammenarbeit ist unglaublich intensiv: Wir wohnen zusammen, wir sind ein Paar, wir sind sehr viel miteinander. Das ist eine grosse Herausforderung, bei der die Liebe ein ganz wichtiger Bestandteil ist.

ONE, Seduced by the Darkness
Das erste Ergebnis Eurer Zusammenarbeit ist das Monumental-Buch Seduced by Darkness. Man merkt, ihr denkt in grossen Massstäben.
Unbedingt. Ein Buch, das einen solchen Unikat-Charakter hat, habe ich noch nie gemacht – das hat natürlich mit meinem jugendlichen Optimismus zu tun: es muss einfach gross sein. Und es wandelt sich ständig, daher auch der Unikat-Charakter. Wir machen immer zwei Bücher gleichzeitig, und bei jedem Buch gibt es immer was Neues, ca. 20% der Bilder variieren. Das ist alles kein Schnellschuss, sondern soll sich stetig weiterentwickeln. Im Namen ONE steckt auch, dass wir nicht nur Fotografen sind, sondern alles machen: Recherche, Durchführung, Post-Production, Druck, Projektleitung, Verkauf… Das ist das Grossartige daran: Wir sind wie eine Manufaktur – es kommt alles aus dem gleichen Haus. Das finde ich toll und das gefällt mir! Es ist eben auch noch ein Handwerk!
Also gibt es dich in multipler Form, als Fotograf und Filmemacher, als Kollaborateur?
Genau. Venzago himself läuft ganz normal weiter. Nur hat sich mit ONE mein Kosmos insgesamt stark erweitert. Es ist wie eine kreative Reise, auf der stetig etwas Neues passiert. Was noch alles kommt? Keine Ahnung, aber es kommt sicher gut.
Alberto, danke für das spannende Gespräch. Zum Abschluss: Wenn jemand mit dem Fotografieren beginnen möchte, welchen Tipp würdest du ihm geben?
Mein Rat ist: geh ins Museum. Nicht ins Fotomuseum, sondern ins Museum. Schau dir an, was die grossen Meister gemacht haben. Wie sie das Licht einsetzen, Merkmale herausarbeiten oder abschwächen etc. Dort lernt man am Meisten! Im Museum! Da musst du lernen, richtig zu sehen.

Alberto Venzago
Mehr Informationen über Alberto Venzago, seine Projekte,
das Künstlerduo ONE und viele Bilder auf:
www.venzago.com
Titelbild: ONE, Seduced by the Darkness